Dramatischer Kostenanstieg durch Fehlentwicklungen in der Dekubitusversorgung

„Prinzipiell sei das Wissen, wie sich Dekubitalgeschwüre verhindern ließen, bekannt.“, so kritisieren sieben Hilfsmittel-Anbieter-Verbände in ihrem „Positionspapier über die Dekubitusversorgung“ die Versorgung von Patienten durch die gesetzliche Krankenversicherung.  95 Prozent der auftretenden Geschwüre gelten als vermeidbar. Die Fehlentwicklungen in der Dekubitusversorgung führen zu dramatischen Kostenanstiegen durch unnötig entstandene Druckgeschwüre.

Titel des PDF "Gemeinsames Positionspapier zur Dekubitusversorgung"

Die Versorgung von Menschen mit Hilfsmitteln gegen Dekubitus ist seit Jahren durch einen Qualitätsverfall bei Produkten und Dienstleistungen gekennzeichnet. Basierend auf fehlerhaften Informationsgrundlagen im GKV-Hilfsmittelverzeichnis und haltlosen Werbebotschaften der Hersteller werden Patienten in Deutschland kaum noch bedarfsgerecht versorgt. Die Folge ist ein systembedingter, vom demografischen Faktor losgelöster, signifikanter Anstieg der Dekubitusfallzahlen.

Fakten

  • Das Wissen, wie ein Dekubitus vermieden werden kann, ist vorhanden. 95 % der Druckgeschwüre gelten als vermeidbar.
  • Entsteht ein vermeidbarer Dekubitus, stellt dies einen Verstoß gegen Artikel 2 der Pflegecharta dar, nach der jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch das Recht hat, vor Gefahren für Leib und Seele geschützt zu werden.
  • 460.000 Menschen erleiden jährlich in Deutschland ein oder mehrere Dekubitalgeschwüre. Dies entspricht einem Zuwachs von fast 50 % gegenüber 2007.
  • Im gleichen Zeitraum ist die Anzahl der Pflegebedürftigen und damit die Anzahl der Risikopatienten nur um 22 % gestiegen.
  • Die Kosten der Dekubitusbehandlung werden in Deutschland auf mindestens 2,5 Mrd. € pro Jahr geschätzt. Die Kosten der Behandlung eines Dekubitalgeschwüres der Kategorien III oder IV liegen zwischen 4.550 € und 19.500 €.
  • Aktuelle Erstattungspreise für die Versorgung mit Antidekubitushilfsmitteln liegen weit unter den Anschaffungspreisen einer haushaltsüblichen Matratze.
  • Ein Dekubitus geht in der Regel mit enormem physischem und psychischem Leid für Betroffene und Angehörige einher. Druckgeschwüre beeinträchtigen die Gesundheit und Lebensqualität der Betroffenen erheblich. Sie führen zu Mobilitätsverlust, Behinderungen und im schlimmsten Fall zum Tod.

Hintergrund

  • Der überproportionale Anstieg von Dekubitalgeschwüren deutet auf dramatische Fehlentwicklungen bei der Versorgung dekubitusgefährdeter Menschen hin.
  • Neben der Bewegungsförderung und einer bedarfsgerechten Lagerung gehört der Einsatz von Hilfsmitteln gegen Dekubitus zu den wichtigsten Maßnahmen, um einem Dekubitus vorzubeugen oder seine Heilung zu unterstützen.
  • Die präventive und therapeutische Versorgung mit Hilfsmitteln gegen Dekubitus ist in Deutschland hingegen seit mehr als 10 Jahren durch einen erheblichen Qualitätsverfall bei Produkten und Dienstleistungen gekennzeichnet. Eine bedarfsgerechte Versorgung nach internationalen Leitlinien, Expertenstandard und Hilfsmittelrichtlinien findet in Deutschland weitestgehend nicht mehr statt. Ursächlich hierfür sind u. a. die um mehr als 70 % gesenkten Erstattungspreise.
  • Das aktuelle Hilfsmittelverzeichnis wird dem Versorgungsbedarf nicht gerecht. Die erst auf politischen Druck Ende 2013 eingeleitete Überarbeitung des Hilfsmittelverzeichnisses in der Produktgruppe 11 – Hilfsmittel gegen Dekubitus – ist bis heute ohne nennenswerte Ergebnisse geblieben, trotz Kenntnis der folgenschweren Entwicklung der Dekubitusfallzahlen. Der GKV-Spitzenverband verweigert sich der angebotenen Unterstützung durch die vorhandene Fachkompetenz des Marktes.
  • Zentrales Defizit der aktuellen Version der PG 11 ist zudem, dass der GKV-Spitzenverband nach wie vor von den Herstellern für die Eingruppierung ihrer Produkte u. a. Leistungsangaben zur Eignung der Hilfsmittel für Dekubitusgrade fordert. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Dekubitusgrad und den Materialeigenschaften eines Antidekubitussystems (Quelle: EPUAP). Dekubitusgefährdete Menschen werden hierdurch in Deutschland auf falschen Informationsgrundlagen und dadurch mit erheblichen Risiken für ihre Gesundheit versorgt.
  • In der Folge ist eine patientenindividuelle und bedarfsgerechte Versorgung mit Hilfsmitteln gegen Dekubitus einer Einheitsversorgung gewichen.
  • Rational nachvollziehbare Sachargumente werden bei der Produktbeurteilung durch die Krankenkassen oft ignoriert. Diese Haltung wird durch die veraltete PG 11 unterstützt, da im Moment in einer Produktkategorie nicht immer in ihrer Funktion gleichartige und gleichwertige Produkte zusammengefasst sind.
  • Zur juristischen Absicherung verpflichten die Krankenkassen die Leistungserbringer in den Verträgen zu umfangreichen Dienst- und Serviceleistungen, verweigern aber eine entsprechende Vergütung. Solche Vereinbarungen auf Unterkostenbasis führen dazu, dass grundlegende Voraussetzungen für die Versorgung wie eine qualifizierte Bedarfsermittlung nicht mehr durchgeführt werden. Die Mangelversorgung wird somit durch ausbleibende Vertrags- und Versorgungskontrollen seitens der Krankenkassen gedeckt.
  • Angesichts der schwierigen Nachweisführung und der Multikausalität der Dekubitusentstehung besteht für Krankenkassen, Hersteller und Leistungserbringer nur ein geringes Haftungsrisiko für diese Fehlentwicklung.

Thesen

  • Starres Spartendenken innerhalb der Krankenkassen und die alleinige Fokussierung auf die Hilfsmittelkosten verhindern innovative, ganzheitliche Versorgungslösungen und führen zu unnötigen Kostensteigerungen in der Wundbehandlung.
  • Dekubitus ist ein Tabuthema. Daher gelangen die Versorgungsdefizite in diesem Bereich nicht an die Öffentlichkeit.
  • Die Dekubitusfallzahlen in Deutschland werden aufgrund der bestehenden Defizite des Hilfsmittelverzeichnisses und der mangelhaften Versorgungs- und Leistungspolitik vieler Krankenkassen weiter drastisch ansteigen.
  • Das Gesundheitssystem wird durch die unzureichende Prävention gegen Dekubitalgeschwüre zunehmend mit vermeidbaren Kosten in Milliardenhöhe belastet.

Forderungen / Handlungsmaßnahmen

  • Schaffung geeigneter Bewertungskriterien zur Aufnahme von Antidekubitussytemen in das Hilfsmittelverzeichnis und einer sinnvollen Struktur/Zuordnung als Grundlage für eine differenzierte Versorgung
  • Abschaffung des Missbrauchs der Dekubitusgrade als Hauptkriterium zur Auswahl der Hilfsmittel
  • volle Berücksichtigung der Prozesskosten der Dekubitusversorgung in den Verträgen
  • Gemeinsame Definition von Bewertungskriterien, Neugliederung und Dienstleistungsstandards für die Versorgung mit Antidekubitushilfsmitteln durch GKV-Spitzenverband, Wissenschaft, Fachexperten und Verbände sowie deren verbindliche Aufnahme in Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern
  • Ausschluss von Ausschreibungen nach § 127 (1) SGB V für die Produktgruppe 11 – Hilfsmittel gegen Dekubitus
  • Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation um Fortschritte bei der Prävention und Therapie von Menschen mit Dekubitalgeschwüren zu erzielen
  • verbindliches und einheitliches Controlling durch eine neutrale Stelle

(Darstellung in Anlehnung an „Patient Gesundheitswesen“ Oberender et al. Quintessenz Verlag Berlin 2015)