Aktueller Expertenstandard: Verbindliche Leitlinie für die Patientenversorgung

Die zweite Aktualisierung des DNQP-Expertenstandards „Dekubitusprophylaxe“ gibt verbindliche Leitlinien und Expertenstandards als wissenschaftlich fundierte Handlungsempfehlung für eine patientengerechte Versorgung vor. Patrick Kolb, unser Geschäftsführer und stellvertretender Vorsitzender der Fachvereinigung Medizin Produkte (FMP) e.V. äußert sich in einem im MTD-Verlag erschienen Artikel dazu.

Die Versorgung von Menschen mit Hilfsmitteln gegen Dekubitus ist seit Jahren durch einen Qualitätsverfall bei Produkten und Dienstleistungen gekennzeichnet. Basierend auf fehlerhaften Informationsgrundlagen im GKV-Hilfsmittelverzeichnis und haltlosen Werbebotschaften der Hersteller werden Patienten in Deutschland kaum noch bedarfsgerecht versorgt. Die Folge ist ein systembedingter, vom demografischen Faktor losgelöster, signifikanter Anstieg der Dekubitusfallzahlen.

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Eine konsequente Umsetzung der Leitlinien bietet die Chance, die vermeidbare Diagnose „Dekubitus“ aus stationären Einrichtungen und häuslichem Umfeld zu verbannen und damit viel Leid und hohe Folgekosten zu vermeiden.

Nachfolgend werden die aus dem Blickwinkel der Hilfsmittelversorgung wichtigsten Neuerungen der vorliegenden Konsultationsfassung der zweiten Aktualisierung des DNQP-Expertenstandards „Dekubitusprophylaxe in der Pflege“ kurz vorgestellt.

Expertenstandard: Haftungs- & sozialrechtliche Relevanz 

Expertenstandards werden als Konkretisierung des anerkannten, aktuellen Wissensstands angesehen. Sie gelten als vorweggenommenes Sachverständigengutachten für den Maßstab pflegerischer Sorgfalt. Daraus ergibt sich, dass die Nicht beachtung von Expertenstandards von der deutschen Rechtsprechung als Sorgfaltspflichtverstoß und damit als Fahrlässigkeit mit entsprechenden haftungsrechtlichen Folgen bewertet wird. Die sozialrechtliche Relevanz des Expertenstandards ergibt sich aus mehreren Paragrafen des SGB V und SGB XI, in denen darauf verwiesen wird, dass die Versorgung „dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen muss“, der im Fachgebiet der Dekubitusprophylaxe durch den DNQP-Expertenstandard abgebildet wird.

Der Expertenstandard, der von einer 14-köpfigen wissenschaftlichen Arbeitsgruppe unter der Leitung von Dr. Jan Kottner, Charité Berlin, nach Analyse von 54 Leitlinien, 52 Übersichtsarbeiten und 189 Einzelstudien zum zweiten Mal aktualisiert wurde, bezieht Berufsgruppen, die an der Versorgung beteiligt sind, ausdrücklich mit ein. Maßnahmen zur Vermeidung von Dekubitus sollen in enger Zusammenarbeit mit den Akteuren erfolgen. Neben der Bewegungsförderung und Wechsellagerung stellt die Versorgung mit druckverteilenden und druckentlastenden Hilfsmitteln eine der drei wesentlichen Handlungsmaßnahmen in der Dekubitusprävention dar.

Dem Fachhandel kommt in diesem Leistungsprozess die Aufgabe zu, auf Basis der ärztlichen Verordnung und auf Grundlage der individuellen Situation des Patienten die Hilfsmittelauswahl zu konkretisieren. „Voraussetzung für die Auswahl individuell angemessener Interventionen ist eine differenzierte und genaue Einschätzung des Risikos …“, das sich aus einer Vielzahl von patienten- und umweltbezogenen Faktoren ergibt, die im Expertenstandard ausführlich beschrieben werden. Eine fachgerechte Hilfsmittelversorgung setzt demnach die Kenntnis dieser Faktoren, die Fähigkeit zu ihrer Einschätzung und schließlich ihre Berücksichtigung bei der Hilfsmittelauswahl voraus. Auch im Zusammenhang mit den erweiterten Anforderungen an die Beratung von Patienten und Angehörigen gemäß HHVG sind die Inhalte des Expertenstandards für den Leistungserbringer zu beherrschen und in der Versorgung zu berücksichtigen.

Ergebnis: Die Handlungsleitlinien des Expertenstandards sind nicht nur für die Pflege verbindlich, sondern auch für Krankenkassen und Leistungserbringer, die durch die mittelbare und unmittelbare Gestaltung der Hilfsmittelversorgung Einfluss auf ein wesentliches Handlungs- und Maßnahmenfeld der Dekubitusprävention nehmen. Rahmenbedingungen und Handlungen, die Leitlinien missachten oder deren Umsetzung beeinträchtigen, können haftungs- und sozialrechtliche Folgen für die Beteiligten haben.

Veränderte Terminologie und neue Fachbegriffe 

Erweiterung der Dekubituskategorien

Zur Beschreibung des Schwergrades eines Dekubitus, beispielsweise für den fachlichen Dialog, für Therapieentscheidungen oder die Erhebung von statistischen Kennzahlen wird die chronische Wunde „Dekubitus“ in der medizinischen Wissenschaft nach verschiedenen Merkmalen klassifiziert. In den letzten 10 Jahren hat sich die Einteilung der Dekubitusstadien (auch „Stufen“ oder „Kategorien“) nach EPUAP, dem European Pressure Ulcer Advisory Panel, in Medizin und Pflege etabliert. Mit der Veröffentlichung der „EPUAP Clinical Practice Guideline“ 2014, der international anerkannten Leitlinie zur Dekubitusprävention, auf der wesentliche Inhalte des Expertenstandards beruhen, wurde die bisherige Einteilung in vier Dekubitusstadien sinnvoll um zwei weitere Kategorien erweitert. Diese Erweiterung ist nun auch im vorliegenden, aktuellen Expertenstandard zu finden.

Hinzugekommen zu den bisher vier Kategorien ist zum einen der „Dekubitus keiner Kategorie zuordenbar, Tiefe unbekannt“.  Hierbei handelt es sich um eine Wunde mit vollständigem Gewebeverlust, bei dem die Basis des Ulcus von Belägen (gelb, hellbraun, grau, grün oder braun) und/oder Schorf im Wundbett bedeckt ist. Bis genügend Beläge und/oder Schorf entfernt sind, um den Grund der Wunde offenzulegen, kann die wirkliche Tiefe und daher die Kategorie bzw. das Stadium nicht festgestellt werden. Es handelt sich hierbei aber immer um ein Stadium III oder IV. Während in der Versorgungspraxis bisher schon bekannt war, dass diese meist mit einem dunklen Belag bedeckte Wunde schwerwiegend ist und entsprechender Interventionen bedarf, wird die zweite hinzugekommene Kategorie oft nicht als tiefe Wunde erkannt, da die Haut oberflächlich unversehrt ist. Bei dieser sogenannten „vermuteten tiefen Gewebeschädigung“ handelt es sich um einen livid oder rötlichbraun lokalisierten Bereich von verfärbter, oberflächlich intakter Haut aufgrund einer Schädigung des darunterliegenden Weichgewebes durch hohe Druck- und/oder Scherkrafteinwirkungen. Auch unter optimaler Behandlung kann es zu einem rasanten Verlauf unter Freilegung weiterer Gewebeschichten kommen, das heißt einem Fortschreiten des Dekubitus, der nach einer gewissen Zeit als tiefe Wunde Dekubitus Kategorie III oder IV sichtbar wird.

Diese neue Dekubituskategorie ist für die Praxis bedeutend, weil sich unter der intakten Haut eine massive Gewebeschädigung in der Tiefe befindet, die häufig nicht als solche erkannt wird, wodurch dringend notwendige Interventionen und Maßnahmen oft ausbleiben.

Ergebnis: Die beiden erweiterten Dekubituskategorien nach EPUAP sollten durch den Leistungserbringer in der Praxis erkannt und im Erhebungsbogen dokumentiert werden, um eine dem Schweregrad entsprechende Versorgung durchführen zu können.

Druckverteilende und druckentlastende Matratzen

Um die Wirkungsweisen unterschiedlicher Antidekubitus-Liegehilfen deutlich zu machen und damit auch deren Nutzen und Einsatzgrenzen in spezifischen Patientensituationen zu betonen, nimmt der Expertenstandard folgerichtig eine strikte Trennung von „druckverteilenden“ und „druckentlastenden“ Matratzen vor. Bei druckverteilenden Matratzen, die im Expertenstandard mit dem neuen Fachbegriff „Niederdruckmatratzen“ bezeichnet werden, sinkt der Körper in weiches Material ein, wodurch die Auflagefläche des Körpers auf der Matratze vergrößert und der Druck auf disponierten Stellen verringert wird. Obwohl es auch anpassungsfähige energetisch betriebene Weichlagerungen gibt, sind unter Niederdruckmatratzen in der Praxis in erster Linie Schaumstoffweichlagerungsmatratzen zu verstehen. Diese werden zur Charakterisierung ihrer wesentlichen Eigenschaften auch als „statische“ und „passive“ Matratzen bezeichnet, da sie sich nicht an veränderte Druckverhältnisse anpassen können.

In Abgrenzung zur Druckverteilung bei Schaumstoffmatratzen findet eine Druckentlastung beim Einsatz von Wechseldrucksystemen statt. Durch die aktiv-dynamisch gesteuerte Be- und Entlüftung von Luftkammern findet eine intermittierende, temporäre Druckentlastung von Körperstellen statt, um so die Durchblutung zu verbessern und einem Dekubitus vorzubeugen bzw. bestehende Druckgeschwüre therapeutisch zu unterstützen.

Ergebnis: Zur Beurteilung, welches Hilfsmittel und welches Wirkprinzip in welcher spezifischen Patientensituation geeignet ist, sind die Begriffe Druckverteilung und Druckentlastung zu verstehen und fachlich richtig anzuwenden.

Hervorhebung der Besonderheiten der Kinderversorgung

Der aktualisierte Expertenstandard stellt erstmals die besonderen Anforderungen für die Risikoeinschätzung, Festlegung und Durchführung von druckentlastenden Maßnahmen bei Kindern heraus. Die Haut von Neugeborenen, Säuglingen und Kindern weist physiologische und anatomische Besonderheiten auf. Kinder haben eine andere Druck- und Schmerzwahrnehmung, äußern diese different und können verstärkten Druck- und Scherkräften bei der medizinischen Versorgung ausgesetzt sein. Die Risikoerhebung, Auswahl und der Einsatz von druckreduzierenden Hilfsmitteln müssen sehr sorgfältig vorgenommen und die kinderspezifischen Besonderheiten zwingend berücksichtigt werden. Da sich die Situation bei Kindern rasch ändern kann, muss das Risiko-Screening in kurzen Abständen wiederholt werden. Bei der Versorgung von kleinen Hochrisikopatienten mit energetisch betriebenen Matratzen müssen Systeme mit spezifischen Kammerngrößen und Gewichtsbereichen ausgewählt werden. Ergebnis: Die Versorgung von Kindern mit druckreduzierenden Hilfsmitteln setzt eine spezifische Kompetenz bei der Risikoeinschätzung und Versorgung voraus und bedarf besonderer Produkteigenschaften.

Risikoeinschätzung als wichtigste Grundlage für bedarfsgerechte Versorgung

Der Expertenstandard betont eindringlich, dass jeder Maßnahme zur Dekubitusprävention oder -therapie zunächst eine differenzierte und genaue Risikoeinschätzung des Patienten vorausgehen muss. Das individuelle Risikoprofil bestimmt die Auswahl und die erforderlichen Eigenschaften der Hilfsmittel und nicht etwa ein vorliegender Dekubitusgrad. Die Einschätzung des Dekubitusrisikos als Grundlage für die Festlegung angemessener Interventionen

  • muss beim Patienten vor Ort erfolgen,
  • erfordert ein schriftliches Assessment mit Bedarfsermittlung und Begründung, wobei eine Bepunktung oder „Ja“-„Nein“-Bewertung nicht ausreichend ist,
  • umfasst die Berücksichtigung von Einflussfaktoren wie Grunderkrankungen, Fähigkeitsstörungen und sozialem, pflegerischem Umfeld,
  • beinhaltet die Bewertung der im Expertenstandard aufgeführten weiteren Faktoren und Bedingungen unter besonderer Berücksichtigung der zentralen Risikoeinflussgröße „Mobilität“ und insbesondere der Fähigkeiten zur Positionsveränderung und der Aufrechterhaltung einer bestimmten Position,
  • setzt einen Informationsaustausch mit den Beteiligten voraus,
  • muss nach Veränderungen oder Eintritt von Ereignissen, die Auswirkungen auf die Mobilität haben, wiederholt werden und Anpassungen der Hilfsmittel in Erwägung ziehen,
  • muss begleitende Therapieziele wie Mobilitätserhalt, Schmerzentlastung, Kontrakturprävention etc. berücksichtigen und ggf. beim Therapieverantwortlichen eine Prioritätenfestlegung einfordern.

Die Erfassung und Beurteilung der genannten Faktoren sowie die damit verknüpfte Auswahl geeigneter Methoden für die Druckentlastung wie der Hilfsmittelversorgung erfordert laut Expertenstandard ausdrücklich „pflegefachliches Wissen und Können“. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich für die Hilfsmittelleistungserbringung die Konsequenz, entsprechend qualifiziertes Fachpersonal für die Beratung, Bedarfserhebung, Auswahl und den wichtigen interdisziplinären Dialog mit Arzt und Pflege einzusetzen. Jedem Marktteilnehmer muss demnach bewusst sein, dass die in vielen Verträgen geduldete Medizinprodukteberater-Qualifikation, die in wenigen Stunden erworben werden kann, für die Versorgung in der PG 11 nicht ausreichend ist.

Die Qualifikation des fachlichen Leiters kann Defizite in diesem Bereich nicht heilen: Er ist nicht beim Patienten vor Ort. Einer der wesentlichen Gründe für Unter- und Fehlversorgungen und den damit einhergehenden gesundheitlichen Folgen ist daher der Einsatz nicht ausreichend qualifizierten Personals. Die Notwendigkeit der Versorgung durch examinierte Pflegekräfte ist umso dringlicher, da man im ambulanten Setting zunehmend auf Pflegehelfer bzw. nicht in der Dekubitusprävention ausgebildete Mitarbeiter von Pflegediensten trifft oder gar kein Pflegedienst in die Versorgung eines Patienten einbezogen ist.

Ergebnis: Die zunehmend von Leistungserbringern praktizierte Versorgung ohne Bedarfsermittlung, ohne qualifizierte Beratung und ohne abstimmenden Dialog ist ebenso wie die telefonische Erhebung ohne Inaugenscheinnahme des Patienten als fahrlässige Handlung zu bezeichnen. Die differenzierte Risikoeinschätzung beim Patienten vor Ort, die hierauf basierende anschließende Hilfsmittelauswahl und die Beratung erfordern den Einsatz examinierter Pflegekräfte mit fundierten Hilfsmittelkenntnissen. Bei der Versorgung sind Erhebungsbögen einzusetzen, die Einflussfaktoren dokumentieren und den Beteiligten Transparenz über die Situation bieten. Die im Markt verwendeten Erhebungsbögen erfüllen diese Anforderungen nicht. In der Regel ist hier kein Zusammenhang zwischen Erhebung und Hilfsmittelauswahl bzw. eine nachvollziehbare Begründung zu finden. Einer Simplifizierung der Versorgung in der PG 11 ist angesichts der Fallzahlenentwicklung und der Rechtslage durch Leitlinien eine eindeutige Absage zu erteilen.

Expertenstandard: Empfehlung für den Einsatz von Hilfsmitteln

Der Expertenstandard betont, dass es keine allgemeinen Empfehlungen dafür gibt, welches druckreduzierende Hilfsmittel am geeignetsten ist. Aus der Individualität der Patientensituation, der Vielzahl an Einflussfaktoren und der Berücksichtigung begleitender Therapieziele ergibt sich zwangsläufig eine Absage an allgemeingültige Aussagen. Auch liegen keine vergleichenden Studien vor, die eine ausreichende Evidenz bieten. Dennoch finden sich im Expertenstandard bzw. den hierin angeführten EPUAP-Guidelines hilfreiche Aussagen zur Orientierung und zur Vermeidung von Fehlversorgungen. Nachfolgend werden einige, für die Versorgungspraxis wichtige Inhalte herausgestellt:

  • Da ein Dekubitusrisiko schnell eintreten und sich Druckgeschwüre innerhalb kürzester Zeit entwickeln können, sind schon bei geringen Risiken Niederdruckmatratzen gegenüber Standardmatratzen vorzuziehen.
  • Der Expertenstandard bzw. die EPUAP-Leitlinien empfehlen mit starker Evidenz die Auswahl von Matratzen in Abhängigkeit von Mobilität und der Lagerungsmöglichkeit durch das pflegerische Umfeld vor Ort: „Verwenden Sie bei Personen mit einem höheren Dekubitusrisiko eine aktive Unterlage (energetisch gesteuertes System), wenn eine häufige Positionsänderung nicht möglich ist“. Insbesondere im häuslichen Pflegeumfeld sind die Voraussetzungen für häufige druckentlastende Umpositionierungen oft nicht gegeben. Die mit starker Evidenz belegte und an mehreren Stellen getroffene Aussage impliziert, dass je höher sich das vorliegende Dekubitusrisiko darstellt, desto geringer die Eignung von passiven statischen Schaumstoffweichlagerungsmatratzen ist.
  • Die Herstellerangaben zur Eignung ihrer Produkte für einen bestimmten Dekubitusgrad negieren den im Expertenstandard dargelegten, folgerichtigen Zusammenhang zwischen Dekubitusrisiko, durchführbaren Umpositionierungen und eingesetztem Antidekubitus-Hilfsmittel. Durch die Angabe des Dekubitusgrades wird der Anschein erweckt, dass die Hilfsmittel pauschal für jede Patientensituation geeignet sind. Diese Werbebotschaften, die durch die Anforderungen des GKV-Spitzenverbandes für die PG 11 unterstützt werden, haben den Blick auf den Patienten und die Ursachen- Wirkungs-Zusammenhänge bei der Dekubitusprävention verstellt und damit zu verheerenden Folgen in der Versorgung geführt.

Irreführung durch Hersteller

  • Einsatzempfehlungen für Matratzen und Kissen bis Grad III oder IV nach EPUAP entbehren jeder fachlichen Grundlage. Hierfür gibt es keinen rationalen Zusammenhang und keine Evidenz. Es handelt sich schlicht um irreführende Werbung, die von der EPUAP ausdrücklich zurückgewiesen wird und laut MPG verboten ist.
  • Besonders deutlich wird dieser unhaltbare Missstand bei der Etikettierung von einfachen Schaumstoff-Sitzkissen „bis Grad IV“. Im Expertenstandard wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Patienten nicht unmittelbar auf einem Dekubitus zu positionieren sind. Im Rahmen der notwendigen Bewegungsförderung sollen die täglichen Sitzintervalle kurz sein. Mit der Werbung bis Grad III oder IV wird der Eindruck erweckt, das Kissen könne einen Dekubitus therapeutisch unterstützen und daher lange Sitzzeiten ermöglichen, was für den Patienten zu erheblichen Gesundheitsschäden führen kann.
  • Der Expertenstandard fordert im Zusammenhang mit der Verwendung von Schaumstoffweichlagerungsmatratzen in der Patientenversorgung explizit „höher spezifizierte“ oder „hochwertige passive“ Systeme. Es dürfte zweifelsfrei sein, dass die im Markt überwiegend eingesetzten Schaumstoffmatratzen der Preiskategorie 50 bis 100 Euro diese Wertigkeit und Spezifikation nicht erfüllen. Zur Vermeidung von Patientenschäden ist dringend eine Definition von Mindeststandards und Qualitätsanforderungen für solche Matratzen erforderlich, beispielsweise auf der Basis der Empfehlung der APUAP, der nationalen Leitlinien Österreichs.
  • Der Expertenstandard betont gleichzeitig, dass, wenn aus Risikoerwägungen aktive, dynamische Wechseldrucksysteme zur Druckentlastung geboten wären, mögliche Komplikationen und begleitende Therapieziele beim Einsatz dieser Systeme berücksichtigt werden müssen. Einfache Wechseldrucksysteme können durch ihre Reizeinwirkung beim Be- und Entlüftungsvorgang zur Verstärkung einer vorliegenden Spastik oder Schmerzsymptomatik führen.
    Die Konsequenz im spezifischen Fall darf dann aber nicht sein, stattdessen auf Schaumstoffmatratzen zurückzugreifen, die aus Risikoerwägungen nicht ausreichend sind und ebenfalls Nebenwirkungen wie Bewegungseinschränkungen oder negative Scherkräfte bei der Schaumstoffkomprimierung haben können. In diesen Fällen sind spezielle Systeme mit einer geringen beziehungsweise gar keiner Reizeinwirkung einsetzbar. Die Schwarz-Weiß-Betrachtung zwischen Schaumstoff und Wechseldruck durch aggressive Herstellerwerbung hat auch hier den Blick auf die notwendige und mögliche Produktdifferenzierung und individuelle Hilfsmittelauswahl verdeckt.

Fazit

Die Versorgung von Menschen mit Antidekubitus-Hilfsmitteln erfolgt in Deutschland überwiegend nicht leitlinien- und damit auch nicht rechtskonform. Die aktuelle Neufassung des „Expertenstandards“ belegt dies in vielen Punkten. Die Leistungsgestaltung durch Kostenträger und Leistungserbringer in der Produktgruppe 11 hat sich in den vergangenen Jahren von Fachlichkeit, Leitlinien und verantwortlichem Handeln völlig losgelöst und ist überwiegend zur undifferenzierten Auslieferung von Billigprodukten mit „Dekubitusgrad-Etikett“ verkommen.

Der GKV-Spitzenverband kennt die Defizite nach eigenem Bekunden seit vielen Jahren, setzt die notwendigen Fortschreibungsschritte aber seit ebenso langer Zeit nicht um. Dies geschieht alles zulasten von schwerstpflegebedürftigen Menschen, die an der schmerzhaften, vermeidbaren Diagnose „Dekubitus“ erkranken.

Auch aus Kostensicht ist die Hilfsmittelversorgung in der PG 11 ein Desaster. Geringfügigen Einsparungen bei der Hilfsmittelvergütung stehen Fallzahlensteigerungen mit den bekannten Folgekosten in Milliardenhöhe gegenüber. Insbesondere dem Unsinn der Angabe von Dekubitusgraden im Zusammenhang mit Produkten sollte rasch ein Ende gesetzt werden, damit Leistungserbringer und Kostenträger wieder auf den Patienten schauen und nicht auf Werbebotschaften. Alle Beteiligten sind aufgefordert, die Rahmenbedingungen für eine leitlinien- und patientengerechte Dekubitusprävention zu schaffen und die tägliche Versorgung mit Hilfsmitteln gegen Dekubitus gewissenhaft durchzuführen.