Mythen kritisch begegnen
Antidekubitus-Hilfsmittel: Werbeaussagen, zweifelhafte Interpretationen des Expertenstandards und verallgemeinerte Einzelerfahrungen beeinflussen die Auswahl von Antidekubitushilfsmitteln zu Lasten der Bewohner. Zeit, mit einigen Mythen aufzuräumen.
Text: Patrick Kolb | Veröffentlicht in Altenpflege.Vorsprung durch Wissen
Neben der Bewegungsförderung und der regelmäßigen Lagerung gehört der Einsatz von Antidekubitus-Matratzen zu den wichtigsten Maßnahmen, um einem Dekubitus vorzubeugen oder seine Heilung zu unterstützen.
Der Preisdruck von Krankenkassen und die damit verbundenen Bemühungen des Fachhandels, gebrauchte Produkte möglichst häufig wieder einzusetzen, führten in den vergangenen Jahren zu hohen Absatzverlusten bei den Herstellern von Antidekubitus-Matratzen. Um in dieser Situation Wettbewerbsvorteile und Marktanteile zu erlangen, wurden einige Herstelleraussagen zur Leistungsfähigkeit ihrer Antidekubitus-Produkte immer aggressiver. Insbesondere Quereinsteiger aus anderen Anwendungsgebieten von Schaumstoff begannen, mit unlauteren Werbeversprechen, der Diffamierung von elektrisch betriebenen Matratzentechnologien und einem ruinösen Preiswettbewerb, das Angebot von Antidekubitus-Matratzen negativ zu verändern.
Begünstigt wurde diese Entwicklung mit der Neuordnung der Produktgruppe 11 „Hilfsmittel gegen Dekubitus“ durch den Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen.
Dass „individuell“ mit „kostenintensiv“ gleichzusetzen ist und daher von den Krankenkassen abgelehnt wird, ist ein Mythos, der die bedarfsgerechte Versorgung behindert.
Durch das Mitte 2007 eingeführte und von Fachexperten scharf kritisierte Labortestverfahren erhielt nahezu jede Matratze eine Hilfsmittelnummer und damit den ungehinderten Marktzugang. Unter dem Deckmantel der HMV-Nummer und der Zugehörigkeit zur Medizinprodukte-Klasse 1 konnten die Hersteller in der Folge alles über ihre Produkte behaupten, ohne einen Beleg für die Wirkung in den unterschiedlichen Anwendungssituationen erbringen zu müssen.
Der permanente Werbedruck sowie Veröffentlichungen und Schulungen durch industrienahe Institute haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass viele Pflegefachkräfte, Krankenkassen und sogar regionale Medizinische Dienste der Krankenkassen die wiederkehrenden Behauptungen gutgläubig übernommen haben. Einsparungseffekte bei den Krankenkassen, Margensicherung beim Fachhandel und ein geringerer Anwendungsaufwand für die Stationäre Pflege haben vor allem den pauschalen Einsatz einfacher Schaumstoff-Matratzen in der Dekubitusversorgung gefördert.
Ein deutlicher Wiederanstieg der Dekubitusraten in der stationären Pflege seit 2009 deutet darauf hin, dass die bettlägerigen Bewohner die Leidtragenden dieser Entwicklung sind. Die nachfolgende Darstellung soll da- zu beitragen, die in den letzten Jahren entstandenen Pauschalaussagen und die daraus abgeleiteten Handlungen zum Einsatz von Antidekubitus-Matratzen kritisch zu hinterfragen und eine bedarfsgerechte, bewohnernahe Versorgung in den Mittelpunkt zu stellen.
Mythos 1: „Entweder Schaumstoff oder Wechseldruck“
Die Frage nach der richtigen Antidekubitus-Matratze für einen Bewohner wird häufig auf die Entscheidung „Schaumstoff- oder Wechseldruckmatratze?“ reduziert. Dieses Schwarz-Weiß-Denken ist fachlich aus zwei Gründen nicht haltbar:
- Zum einen gibt es innerhalb der beiden Matratzenarten „Schaumstoff“ und „Wechseldruck“ eine Vielzahl von Produkten mit unterschiedlichen Leistungsmerkmalen und Gütequalitäten.
Dass Wechseldruckmatratzen laut seien, ständig Alarm geben und die Be- und Entlüftungsvorgänge für den Patienten störend sind, ist ebenso ein nicht zutreffendes Vorurteil, wie die Behauptung, dass der Patient in Schaumstoffmatratzen einsinkt, immobilisiert wird, die enge Konturierung zu Wärmestaus führt und das Körperschema gestört wird.
Ein einfaches Wechseldrucksystem im Zwei-Kammerprinzip ist bei einem Tumorpatienten mit Metastasierung im Skelettbereich ebenso wenig geeignet, wie die Super-Weichlagerung bei einem vollständig im- mobilen Hochrisikopatienten. Ein sanftes Wechseldrucksystem mit Schaumstoff in den Luftzellen und Drei-Kammerprinzip kann für einen Bewohner mit neurologischer Erkrankung hingegen durchaus sinnvoll sein. - Zum anderen gibt es Antidekubitus-Matratzen, die weder aus Schaumstoff bestehen noch dem klassischen Wechseldruckprinzip entsprechen. Sie gleichen häufig die Nachteile der beiden Standardtechnologien aus und sind bei Patienten mit schweren Erkrankungen gut geeignet. Dazu können statisch-reaktive Systeme, Matratzen mit vertikalem Druckwechsel, Hybridsysteme oder spezielle Positionierungsmatratzen gehören.
Welche Matratze für welchen Bewohner geeignet ist, hängt in Theorie und Praxis unbestritten von seiner Mobilität, seinen Grunderkrankungen und Fähigkeitsstörungen sowie seinen sonstigen Risikofaktoren ab.
Die Matratzenauswahl sollte entsprechend des Expertenstandards und der Hilfsmittelrichtlinien individuell, das heißt zweckmäßig für den spezifischen Bewohner erfolgen. Dass „individuell“ mit kostenintensiv gleichzusetzen ist und daher von den Krankenkassen abgelehnt wird, ist gleichfalls ein Mythos, der eine bedarfsgerechte Versorgung des Bewohners in der stationären Pflege oft behindert.
Stimmen Sie daher auf Basis der ärztlichen Verordnung im Dialog mit dem Fachhandelsunternehmen die richtige Versorgung für Ihren Bewohner ab. Reduzieren Sie die Auswahl nicht auf die Entscheidung Schaumstoff oder Wechseldruck.
Mythos 2: „Einsetzbar bis Dekubitus Grad IV nach EPUAP“
Die Leistungszuordnung von Matratzen zu Dekubitusgraden gehört nach wie vor zum größten Aberglauben in der Hilfsmittelversorgung.
Die Angabe von Dekubitusgraden ist immer schon ein reines Werbeinstrument der Industrie gewesen, von dem sich Krankenkassen, Fachhändler und Pflegekräfte auch heute noch in die Irre führen lassen. Für solche Aussagen, die renommierte Fachgesellschaften wie das European Pressure Ulcer Advisory Panel (EPUAP) heftig kritisieren, gibt es keinerlei empirische Grundlage. Es existieren weder Tests noch seriöse Studien, die eine therapeutische Eignung einer Matratze bis zu einem bestimmten Dekubitusgrad nachweisen.
Der Entwickler des Labortestverfahrens für die Aufnahme von Matratzen in das Hilfsmittelverzeichnis (HMV), Dr. Peter Diesing, weist explizit darauf hin, dass die Testergebnisse nicht dazu geeignet sind, ein Produkt als gut oder schlecht zu bewerten. Eine Zuordnung der in den Tests ermittelten Druckentlastungsklassen zu Dekubitustherapiestufen ist ausdrücklich nicht zulässig.
Aggressive Anbieter von Schaumstoffmatratzen, deren Produkte vor Einführung des Testverahrens nur zur Prophylaxe verwendet wurden, geben heute für fast identische Produkte dennoch eine Eignung bis Grad IV an, um im Wettbewerb zu gewinnen.
Bitte beachten Sie, dass sich die Leistungsfähigkeit eines Produktes immer nur aus dem spezifischen Bewohnerkontext ergeben und nie allgemeingültig sein kann.
Druckmindernde Eigenschaften ein und desselben Produktes können bei verschiedenen Gewichtsbelastungen, Körperprofilen und Lagerungspositionen von sehr unterschiedlicher Qualität sein. Wählen Sie deshalb Antidekubitus-Matratzen nach der spezifischen Risikosituation und den Bedürfnissen Ihres Bewohners aus.
Mythos 3: „Auf Antidekubitus- Matratzen dürfen keine Inkontinenzunterlagen und Lagerungskissen eingesetzt werden“
Pflegeheime berichten regelmäßig, dass der MDK oder die Heimaufsicht sie auffordern, Lagerungskissen aus den Betten zu entfernen oder sie belehren, dass man auf Wechseldruckmatratzen keine Inkontinenzunterlagen beziehungsweise gar keine Laken und Bezüge platzieren dürfe. Solche Aussagen verunsichern die Pflege und lösen Handlungen aus, die dem Bewohner schaden können.
Unbestritten ist: zwischen der druckentlastenden Matratze und dem Bewohner sollte möglichst wenig liegen, um die Druckverteilung oder die Entlastung nicht zu reduzieren. Dies gilt gleichermaßen für Schaumstoff- wie für energetisch betriebene Matratzen.
Mit Ausnahme von dickeren, wattierten Produkten reduzieren millimeterdünne Bettlaken oder Inkontinenzunterlagen diese Wirkung aber nur minimal. Aus diesem Grund eine Antidekubitus-Matratzen in Frage zu stellen oder den Bewohner sogar ohne Laken auf ein Polyurethan-Cover zu legen, entbehrt jeder pflegerischen Grundlage. Entsprechende Forderungen sollten Sie deshalb deutlich zurückweisen.
Gleiches gilt für Lagerungskissen. Sie dienen dazu, risikogefährdete Körperareale frei zu lagern oder den Bewohner zu stützen, wenn er sich nicht in einer druckentlastenden Lagerungsposition halten kann. Lagerungskissen sind daher in bestimmten Versorgungssituationen unverzichtbar und bewahren den Bewohner in der Kombination mit einer druckentlastenden Matratze vor Hautdefekten.
Richtig ist, dass Sie darauf achten sollten, dass nicht zu viele Laken, Bezüge oder Kissen zwischen Bewohner und Matratze liegen.
Mythos 4: „Man setzt heute keine Wechseldruckmatratzen mehr ein“
Weitere Aussagen, mit denen man bei der Versorgung in der stationären Pflege konfrontiert wird, lauten: „Auf Wechseldruckmatratzen baut sich die Muskulatur ab, Bewohner mit Demenz darf man nur auf Schaumstoff legen, und auf Wechseldruckmatratzen verliert man die Körperwahrnehmung.“
Keine dieser Aussagen wurde wissenschaftlich untersucht. Ebenso finden sich in der Fachliteratur keine seriösen Hinweise hierauf. Die Behauptungen haben ihren Ursprung in der Werbung von Schaumstoffanbietern oder in lancierten Informationen von herstellerunterstützten Instituten.
Solche Aussagen gelangen dann durch Hersteller- oder Fachhandelsschulungen in die Pflege, wo sie leider oft unkritisch verallgemeinert werden. Bemerkenswert ist, dass diese Behauptungen weder logisch nachvollziehbar noch in den Zusammenhang zum Wechseldruckprinzip gestellt werden können. Im Gegenteil: In der pflegewissenschaftlichen Literatur werden die Thesen „Verlust des Körperschemas“, „Muskulaturabbau“ und „Reizarmut bei Demenz“ eher mit den Nachteilen von Schaumstoff-Weichlagerungsmatratzen in Zusammenhang gebracht.
Es soll ausdrücklich nicht verharmlost werden, dass Wirkprinzipien wie der Wechseldruck in bestimmten Krankheitssituationen zu Nebenwirkungen führen können. Dies gilt aber ebenso für Schaumstoffmatratzen.
Minderwertige Wechseldruckmatratzen haben in der sensiblen, folgekostenträchtigen Dekubitusversorgung ebenso wenig verloren wie minderwertige Schaumstoffmatratzen. Die Anwendung der genannten Pauschalaussagen in der Pflegepraxis beeinträchtigten eine bedarfsgerechte Versorgung des Bewohners. Ob eine ausgewählte Matratze für einen Bewohner geeignet ist, kann sich immer nur im spezifischen Einzelfall zeigen. Aktuelle Arbeiten deuten darauf hin, dass eine undifferenzierte Einheitsversorgung zu fatalen Auswirkungen für die Bewohner führen kann.
Mythos 5: „Das steht so im Expertenstandard“
Der hohe Stellenwert des DNQP-Expertenstandards „Dekubitusprophylaxe in der Pflege“ wird in der Praxis oft missbraucht. Bei dem Versuch einer gemeinsamen Abstimmung, welche Versorgung für den Bewohner geeignet ist, wird man häufig mit der Aussage konfrontiert: „Das steht so im Expertenstandard.“ Die anschließende Klärung, was der Expertenstandard zu Antidekubitus-Hilfsmitteln konkret aussagt, ergibt leider fast immer, dass die Inhalte nicht bekannt sind.
Im Expertenstandard wird die patientenindividuelle Auswahl von Antidekubitus-Hilfsmitteln ausdrücklich betont. Eine Favorisierung bestimmter Matratzentechnologien findet hier nicht statt. Es wird vielmehr darauf hingewiesen, dass die Studienlage im Bereich der Antidekubitus-Hilfsmittel immer noch sehr gering ist und eine Evidenz für bestimmte Hilfsmittel nicht besteht.
Ausgangspunkt dieser missbräuchlichen Verwendung sind wiederum Vertriebsschulungen oder Verkaufsgespräche. Einzelaussagen des für die Pflege wichtigen Expertenstandards werden aus dem Zusammenhang gerissen und verfälscht dargestellt.
Wandern solche Aussagen lange genug im „Stille-Post-Prin- zip“ durch die Praxis, stehen sie irgendwann als Handlungsmaxime im Raum und lassen unkritische Gesprächspartner in Ehrfurcht erstarren. Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Thema Dekubitus, das nach wie vor zu den größten Pflegeproblemen in Deutschland zählt, wird so verhindert. Ziel des Expertenstandards ist das genaue Gegenteil.
Mythos 6: „Wir müssen umsetzen, was Heimaufsicht und MDK fordern“
Prüfer sollten über aktuelles pflegerisches Fachwissen verfügen, um Einrichtungen objektiv beraten zu können. In der Praxis zeigt sich leider zunehmend, dass Mitarbeiter des MDK oder der Heimaufsicht bei Begehungen oder Impulsberatungen pauschale Aussagen zu Antidekubitus-Hilfsmitteln treffen. Aus Angst vor schlechten Bewertungen oder anderen Sanktionsmaßnahmen, werden diese Meinungen in der Pflege oft kritiklos umgesetzt.
Zum Wohle Ihrer Bewohner, für die Sie und nicht der MDK die Verantwortung tragen, empfiehlt es sich, Anweisungen, die Ihnen fragwürdig oder unsachlich erscheinen, zu hinterfragen.
Bitten Sie MDK oder Heimaufsicht um Nachweise oder Quellen für ihre Aussagen. Noch wichtiger ist es, sich Aussagen, die Auswirkungen auf die Versorgung des Bewohners haben, schriftlich bestätigen zu lassen und anschließend mit Fachexperten zu klären.
Mythos 7: „Schaumstoffmatratzen müssen nicht gewartet werden“
„Keine Wartung erforderlich!“ – Dies versprechen einige Hersteller von Schaumstoff-Weichlagerungsmatratzen.
Entsprechend finden während der Lebensdauer des Produktes keine Prüfungen der beworbenen Druckentlastungseigenschaften mehr statt. Aus den Wiedereinsatz-Lagern der Krankenkassen oder Sanitätshäuser erhalten Ihre Bewohner aber gebrauchte, teilweise mehrere Jahre alte Schaumstoff-Matratzen, bei denen man fahrlässig davon ausgeht, dass sie noch über die ursprünglichen Eigenschaften verfügen.
Schaumstoffmatratzen können im Gebrauch ihre Eigenschaften und Elastizität verändern. Es ist kaum nachzuprüfen, wie lange und ob sie immer verantwortungsbewusst in Gebrauch waren.
Stichproben zeigen, dass nach dem Einsatz von Antidekubitus-Matratzen auf den ersten Blick nicht erkennbare Haarrisse und andere Defekte der Schutzhülle durchaus zum Pflegealltag gehören. Flüssigkeiten, Viren und Bakterien können den Matratzenkern somit verunreinigen und beim nächsten Patienten für Infektionsrisiken sorgen.
Die einzig mögliche Aufbereitungen des Matratzenkerns im Dampfdesinfektionsverfahren führt aber nachweislich zu Veränderungen der Matratze, was einen Wiedereinsatz wie in anderen Ländern auch medizinprodukte-rechtlich ausschließen würde.
Sie sollten sich daher im sensiblen Bereich der Dekubitusprophylaxe immer die Frage stellen, wie sich die Druckentlastungswerte im Zeitablauf, nach Reinigungen des Matratzenkerns und nach verschiedenen Wiedereinsätzen verändert haben können und ob sie für die Versorgung des Bewohners noch ausreichend sind.
Ein unpassendes Hilfsmittel kann die Gesundheit und Lebensqualität von Bewohnern gefährden, hohe Folgekosten verursachen und letztlich auch der Position Ihrer Pflegeeinrichtung schaden. Ermöglichen Sie deshalb individuelle Versorgungen für individuelle Menschen.
Bedenken Sie, dass die Matratze, die Ihr bettlägeriger Bewohner erhält, für ihn seine Umwelt bedeutet – bis zu 24 Stunden täglich. Der bettlägerige Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen und seiner Lebensqualität sollte daher im Mittelpunkt Ihrer Entscheidung stehen.
Bedenken Sie dies bei der Abwägung ökonomischer, medizinisch-pflegerischer und ethischer Kriterien.