Wundliegen – der stille Skandal

Plusminus, das Wirtschaftsmagazin des Ersten Deutschen Fernsehens, berichtet in seiner Sendung am 05. Februar 2014 über Dekubitus.

Der Autor, Wilfried Voigt, schreibt Folgendes zur Sendung:

In Deutschland leiden jährlich mehr als 400.000 Menschen an Dekubitus – Druckgeschwüren, verursacht durch Wundliegen. Geschätzte 2,5 Milliarden Euro müssen die Krankenkassen für die nachträgliche Versorgung der häufig durch Pflegemängel entstandenen medizinischen Komplikationen aufbringen.

Im Caritas-Krankenhaus im saarländischen Lebach wird ein Patient für eine Operation vorbereitet. Diagnose: Dekubitus – ein Druckgeschwür, verursacht durch Wundliegen. Ein tiefes Loch klafft über dem Kreuzbein. Nach etwa zwei Stunden hat Dr. Karl-Heinz Kostka, Chefarzt der Abteilung für plastische Chirurgie, die große Wunde verschlossen. Er freut sich über den Erfolg der OP – und ist gleichzeitig empört. Denn in vielen Fällen müsste es seiner Ansicht nach gar nicht so weit kommen. Kostka hat es „manchmal satt, weil sich nichts ändert“. Denn das Phänomen Dekubitus ist seiner Erfahrung nach sehr oft „hausgemacht“. Der Chirurg will zwar „keine böse Absicht unterstellen“. Aber er kritisiert „Nichtwissen“ in Verbindung mit der „Überarbeitung des Personals“ oder einem Mangel in der Pflege durch Unterbesetzung. Schon ein paar Tage nach der OP geht es dem von Dr. Kostka operierten Patienten Gerhard W. deutlich besser. Eine Dekubitus-Behandlung ist oft langwierig und sehr teuer: 50.000 Euro im Einzelfall sind keine Seltenheit. Allein das Spezialbett auf der Station von Chefarzt Kostka kostet 200 Euro – pro Tag. Ohne dieses Bett würde die Wunde nicht so schnell verheilen.

Lebensgefahr durch fehlendes Wissen

Nicht immer verläuft die Heilung jedoch so gut wie bei Gerhard W. Bevor die Dekubitus-Patientin Sonja N. von Chirurg Kostka erfolgreich operiert wurde, hat sie furchtbare Jahre durchgemacht. Auch für ihre Mutter, die sich intensiv um die Tochter kümmert, war es eine schreckliche Zeit. Bevor die Patientin ins Caritas-Krankenhaus nach Lebach kam, wurde sie in einer anderen Klinik operiert – erfolglos. Sonja N.: „Nach drei Wochen hieß es auf einmal: Tut uns leid, wir können es nicht verschließen. Wir haben die
Fachkenntnisse nicht.“ Der Zustand der ohnehin pflegebedürftigen jungen Frau hatte sich durch die offene Dekubitus-Wunde dramatisch verschlechtert.

Chefarzt Dr. Kostka bestätigt: „Es ging um Kopf und Kragen.“ Mehrere Eingriffe waren nötig, um den großen Dekubitus-Defekt zu schließen. Damit sei eine Quelle der Sepsis geschlossen worden. Die angegriffene Niere habe sich stabilisiert. Nach und nach habe sich die Gesamtsituation verbessert.

Unnötige Nachsorge in Milliardenhöhe

Wie kommt es zu solch dramatischen Fällen? Schlechte Ausstattung und Personalmangel gelten als Hauptursachen. Wo an jedem Euro gespart wird, bleibt oft zu wenig Zeit für den einzelnen Patienten. Fachleute gehen von über 400.000 Fällen pro Jahr aus. Oft verbunden mit schrecklichen Qualen für die Betroffenen. Die nachträgliche Therapie kostet die Krankenkassen jährlich geschätzte 2,5 Milliarden Euro. Vom unnötigen Leid für die Patienten ganz abgesehen. Trotzdem spielt das Thema Dekubitus in der Gesundheitspolitik eine untergeordnete Rolle.

Geschönte Zahlen verharmlosen das Problem

Wird das Problem vielleicht sogar bewusst heruntergespielt? Das befürchtet der Pflegewissenschaftler Priv. Doz. Dr. Nils Lahmann von der renommierten Berliner Charité. Er geht davon aus, „dass das Dekubitusrisiko für Patienten im deutschen Krankenhaus höher ist als bisher angenommen.“ Mitverantwortlich dafür sei die Erhebungsmethode der Fälle.

Während die Pflegeheime seit einigen Jahren regelmäßig vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen kontrolliert werden, verlässt sich der Gesetzgeber bei den Krankenhäusern bisher noch auf Selbstauskünfte. Diese Art der Datensammlung verleitet nach Einschätzung von Nils Lahmann „dazu, mit meinen Komplikationsfällen lieber anonym zu bleiben und diese eher nicht mitzuteilen, um mir einfach ein besseres Image zu geben und keine negativen Konsequenzen zu befürchten.“ Insider vermuten, dass etliche Krankenhäuser bewusst Informationen zurückhalten – wer schadet schon ohne Not dem eigenen Haus?

Korrekte Statistik dringend angemahnt

Pfegewissenschaftler Lahmann fordert deshalb, eine zuverlässige Messung durchzuführen, „damit wir wissen, wie groß das Problem tatsächlich ist.“ Denn bisher kalkuliere man wohl mit zu niedrigen, „mit falschen“ Zahlen. Dies erwecke den Eindruck, „dass wir eigentlich gar kein Problem haben“. Und weil es vermeintlich kein Problem gebe, werde auch nicht gehandelt.

Transparenz für Patienten auch im Internet

Auch die Krankenkassen fordern mehr Transparenz beim Massenphänomen Dekubitus – nicht zuletzt für die Patienten. Florian Lanz, Sprecher des Dachverbandes der gesetzlichen Krankenkassen (GKV): „Wir müssen bessere Informationen haben.“ Es müsse auch „von außen darauf gekuckt werden, was passiert da eigentlich“. Lanz plädiert dafür, dass „im Internet für jedermann“ erkennbar sein müsse, in welchem Krankenhaus wie viele Fälle auftreten. Nur so könnten sich Patienten etwa bei einer planbaren Operation entscheiden: „Gehe ich dahin, wo viel Dekubitus ist oder nicht? Ich gehe natürlich dahin, wo es selten Dekubitus gibt.“

Dekubitus bald Thema im Bundestag

Die Linkspartei will das Thema jetzt verstärkt im Bundestag zur Sprache bringen. Die Linken-Abgeordnete Sabine Zimmermann, stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion, kritisiert: „Die Bundesregierung tut überhaupt nichts, um hier eine Verbesserung zu erreichen.“ Derzeit würden nur „kleine Nothilfepflaster“ verteilt. An strukturelle Veränderungen wage sich aber niemand heran, kritisiert Zimmermann. „Im Pflegebereich in den Krankenhäusern fehlen ungefähr 70.000 Pflegekräfte, und das ist natürlich alarmierend.“

Dass in einem reichen Land wie Deutschland so viele Menschen an den Folgen von Pflegemängeln leiden, ist ein Skandal. Und mit der wachsenden Zahl der Senioren wird es künftig noch mehr Betroffene geben. Deshalb müssten auch die Ärzte früher eingreifen, meint Chefarzt Dr. Kostka. Denn gerade die Dekubitus-Patienten, oft ältere, bettlägerige Menschen, seien „nicht in der Lage, sich zu wehren oder zu melden“. Kostka: „Es ist eine liegende, schweigende Menge X, von der wir nicht wissen, was aus ihnen noch wird.“

Das Video zur Sendung ist bis 06.02.2015 in der ARD-Mediathek verfügbar. Sie können es hier aber auch über YouTube abrufen: