Déjà-vu bei der Qualitätskontrolle

Die FMP-Erhebung zeigt: Der PG-11-Ausschreibungsvertrag der AOK Rheinland / Hamburg wird in hohem Umfang nicht eingehalten. Patienten werden ohne Bedarfsermittlung zwangsläufig nicht bedarfsgerecht versorgt. Ein hoher Anteil der Patienten wird auf den gleichen, laut Hersteller nicht hochwertigen Matratzen gelagert.

Die Betroffenheit unter Krankenkassenverantwortlichen war groß, als das IWAK-Institut der Goethe-Universität Frankfurt im Juni 2014 die Ergebnisse der Erhebung der Versorgungsqualität bei Antidekubitus-Liegehilfen im Rahmen der Ausschreibung der AOK Hessen veröffentlichte.

Es kam heraus, dass die Vertragsinhalte regelmäßig nicht eingehalten und Versicherte entsprechenden Gesundheitsrisiken ausgesetzt wurden. In über 75 Prozent der Versorgungsfälle wurde keine Beratung und Bedarfsermittlung durchgeführt, die Versorgungen erfolgten anstatt innerhalb von 24 Stunden im Schnitt nach 9 Tagen, fast 70 Prozent der Versorgungen wurden nicht vom vertraglich festgelegten Fachpersonal durchgeführt und schließlich fand keine bedarfsgerechte, sondern eine Einheitsversorgung mit Produkten aus dem untersten Preissegment statt.

Die Studie dokumentierte, dass Ausschreibungen in komplexeren, beratungs- und dienstleistungsintensiveren Produktbereichen zu Niedrigstpreisen nicht funktionieren und die Leistungserbringer zur Kostenreduzierung einfach wesentliche Teile der Verträge zulasten der Patienten ignorieren.

Der Imageschaden war groß, weil der Vorstandsvorsitzende der AOK Hessen auf Kritik an der Ausschreibung im Vorfeld der Studie behauptet hatte, dass die Versorgungsqualität regelmäßig überprüft und nur erstklassige Produkte, von Pflegefachkräften individuell angepasst, zum Einsatz kämen. Kurze Zeit nach Veröffentlichung der IWAK-Studie nahm die AOK Hessen Abstand von der Ausschreibung.

Eigene Sicht der Realität

Zwei Jahre später, im Mai 2016, schrieb die AOK Rheinland/Hamburg als einzig verbliebene Krankenkasse die Produktgruppe 11 ebenfalls aus. Auf die Kritik aus der Branche und den Hinweis auf die Studienlage entgegnete der verantwortliche Geschäftsbereichsleiter mit eigener Sicht der Dinge, dass andere Kassen die Ausschreibung in der PG 11 erfolgreich umgesetzt hätten.

Bedenken, dass die noch geringeren Preise als bei der AOK Hessen und die Anforderungen nicht miteinander zu vereinbaren seien und es daher wiederum zu Vertragsmissachtung und Patientengefährdungen kommen würde, könne er nicht nachvollziehen. Dies sei völlig abwegig. Die Versorgung im Rahmen der  Ausschreibung werde bedarfsorientiert und qualitativ hochwertig sein.

Beweisaufnahme, die Zweite

Da mit einer verantwortungsvollen Selbstkontrolle nicht zu rechnen war und es mangels Datenzugang ein grundsätzliches Problem ist, Versorgungen zu überprüfen, startete die FMP (Fachvereinigung Medizinprodukte) einige Monate nach Vertragsbeginn mit Unterstützung von Branchenunternehmen eine Erhebung bei Versicherten, die bisher von einem Altvertragspartner eine Antidekubitus-Matratze nutzten und nun bei auslaufender Fallpauschalenlaufzeit vom Ausschreibungsgewinner neu versorgt werden sollten.

Die Versicherten oder Betreuer, die ihr Einverständnis mit der Aktion erklärt hatten, beantworteten Fragen zu Ablauf und Inhalt der Umversorgung. Die ersten Ergebnisse aus Erhebungen bei 47 Patienten aus einem Losgebiet liegen nun vor:

  • Bei 60 Prozent der Patienten hat keine Bedarfsermittlung vor Ort stattgefunden. Es wurde ohne differenzierte Risikoerwägung eine Matratze geliefert.
  • In 55 Prozent der Fälle wurde bei der Lieferung bzw. beim Hausbesuch nicht die vertraglich geforderte Beratung durchgeführt.
  • Bei 47 Prozent der Versorgungen wurde die vertraglich vereinbarte Dokumentation der Patientensituation in einem Erhebungsbogen nicht ausgeführt.
  • In 21 Prozent der Fälle erhielten Patienten keine Einweisung und Gebrauchsanweisung.
  • Informationen über die vom Ausschreibungsgewinner eingesetzten Matratzen konnten nur bei vier Patienten ermittelt werden. In diesen vier Fällen erhielten alle Patienten die gleiche Schaumstoffmatratze, die gleichzeitig zu den billigsten im Markt erhältlichen Produkten gehört.

Diese ersten Ergebnisse basieren noch nicht auf Fallzahlengrößen wie die IWAKStudie. Sie zeigen aber, dass der Ausschreibungsvertrag der AOK Rheinland / Hamburg in hohem Umfang nicht eingehalten wird, dass Patienten ohne Bedarfsermittlung zwangsläufig nicht bedarfsgerecht versorgt werden können und dass offensichtlich ein hoher Anteil der Patienten mit der gleichen, laut Hersteller nicht hochwertigen Matratze versorgt werden.

Der Hersteller bestätigte im Übrigen, dass Losgewinner aufgrund des einfacheren Handlings Massen einer konkreten Matratze ordern, mit der alle Patienten versorgt werden. Das Ergebnis ist wenig überraschend. Die Versicherten der AOK Rheinland / Hamburg werden entgegen der Behauptungen des Geschäftsbereichsleiters weder bedarfsgerecht versorgt noch erhalten sie eine hochwertige Versorgung, was selbst die Herstellerunternehmen bestätigen. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht dürfte die Ausschreibung nicht „erfolgreich“ sein.

Erleiden nur 1,5 Prozent der Betroffenen aufgrund einer unzureichenden, fehlerhaften Versorgung einen Dekubitus höherer Kategorie, werden die geschätzten Einsparungen durch die niedrigere Einzelerstattung aufgehoben. Hiervon darf man angesichts der ersten Erhebungsergebnisse sicher ausgehen.

Juristische und ethische Bewertung

Die Verhaltensweise der Vertragspartner ist kein Kavaliersdelikt. Es liegen grobe Vertragsverstöße vor, die laut Ausschreibungsbedingungen zur Kündigung berechtigen würden. Auf Lose mit Niedrigstpreisen zu bieten und anschließend die Bedingungen nicht einzuhalten, verstößt ebenso gegen Wettbewerbsrecht, weil seriös kalkulierende Bieter hierdurch ausgeschlossen werden. Bei offensichtlichen Unterkostenangeboten eine Kalkulationsmatrix ausdrücklich abzulehnen, obwohl die IWAK-Ergebnisse eine kritische Prüfung zum Schutz der Versicherten erfordert hätten, verletzt die Sorgfaltspflicht.

Eine gegen jede rationale Erwägungen gerichtete und schließlich für die Krankenkasse auch unwirtschaftliche Leistungsgestaltung sollte nicht weiter möglich sein. Es ist aber davon auszugehen, dass die AOK ihr Verhalten erst dann ändern wird, wenn ein Angehöriger eines geschädigten Versicherten trotz seiner belastenden Pflegesituation Kraft und Mut aufbringt, gegen diese Leistungsgestaltung zu klagen und dies öffentlich wird oder dem Verbraucher auffällt, dass er für den hohen Zusatzbeitrag der AOK Rheinland / Hamburg nicht, wie zu erwarten wäre, auch eine hohe Qualität erhält, sondern im Gegenteil mit dem geringsten Versorgungsniveau bedacht wird.